«Der Staat soll gewisse Bemühungen der Eltern einfordern dürfen»: Thurgau plant Lernpflicht für kleine Kinder mit Sprachproblemen – St.Gallen prüft das Modell

In Ostschweizer Städten haben viele Kinder schlechte Deutschkenntnisse, wenn sie in den Kindergarten kommen. Der Thurgau plant nun eine obligatorische Förderung – samt Kostenbeteiligung der Eltern. Auch in St.Gallen wird darüber diskutiert.

Jedes dritte Kind, das in Gossau nächstes Jahr in den Kindergarten kommt, kann kaum Deutsch: Dies bestätigt eine Studie, welche die Universität Basel im Auftrag der Stadt durchgeführt hat. Die Entwicklung bereitet den Schulbehörden schon länger Sorgen. Bereits vor einem Jahr stellten sie fest, dass rund ein Drittel der Kindergartenkinder zu wenig gut Deutsch spricht und Gefahr läuft, bereits mit einem sprachlichen Defizit in die Schulzeit zu starten. Der Anteil sei seit Jahren etwa gleich hoch, sagte der damalige Schulpräsident Urs Blaser (FDP). Und: «Aufrufe an die Eltern nützen nichts.» Die Stadt kündigte an, Massnahmen zu prüfen. Diese Abklärungen dauern an. Ins Auge gefasst wird etwa eine stärkere Zusammenarbeit mit den Spielgruppen.

Auch andere Städte befassen sich mit dem Problem. In Wil, wo jedes zweite Kind im Kindergarten aus einer fremdsprachigen Familie kommt, soll ein neues Finanzierungsmodell dafür sorgen, dass auch einkommensschwache Eltern ihre Kinder beispielsweise eher in die Spielgruppe schicken. Auch der Kanton arbeitet seit einigen Jahren darauf hin, dass Kleinkinder und ihre Familien leichteren Zugang zu Angeboten der frühen Förderung erhalten.

«Eingriff in elterliche Rechte»: St.Galler Regierung zweifelt

Allerdings: Die St.Galler Gemeinden können den Eltern eine sprachliche Förderung der Kinder vor dem Kindergarten nicht vorschreiben – auch dann nicht, wenn der Bedarf dafür erwiesen wäre. Das kantonale Gesetz lässt Obligatorien nicht zu. Jetzt wird dieses Instrument geprüft: Das Kantonsparlament hat im Juni einem überparteilichen Vorstoss aus der Bildungsgruppe des Parlaments zugestimmt.

Sandro Wasserfallen (SVP), Katrin Frick (FDP), Michael Sarbach (Grüne) und Bernhard Hauser (SP) – alle vier sind im Schulbereich tätig – verlangten per Motion, dass der Kanton das selektive Obligatorium einführt: «Kinder, die 18 Monate vor Kindergarteneintritt kaum oder gar keine Deutschkenntnisse haben, sollen verpflichtet werden können, die deutsche Sprache zu erlernen.» 

Gemeinden sollten die Erlaubnis erhalten, diese Kinder im Jahr vor dem Kindergarteneintritt an mindestens zwei Halbtagen pro Woche in eine «deutschsprachig geführte familienexterne Einrichtung» – eben zum Beispiel eine Spielgruppe – zu schicken.

Die Regierung sieht das Problem, ist aber skeptisch gegenüber einem selektiven Obligatorium. Zwar gebe es andere Kantone, die dieses bereits eingeführt hätten, beispielsweise Basel-Stadt. Die Wirkung dieser Massnahme sei aber noch zu wenig klar bewiesen. «Hier gibt es noch gewisse Fragezeichen», sagte Regierungsrätin Laura Bucher (SP) in der Junisession. Die Regierung will die Sache darum zuerst vertieft abklären. Schliesslich gehe es um einen Eingriff in die elterlichen Rechte. Auch bringe es nichts, bei der frühen Förderung nur auf die Deutschkenntnisse der Kleinkinder zu fokussieren, die Sprachkenntnisse generell und auch die Sozialkompetenz seien zu berücksichtigen.

Aufforderung oder Befehl? «Bauernschlaue Gemeinden» im Graubereich

Die St.Galler Regierung beantragte deshalb, statt der Gesetzesänderung zuerst einen Bericht zum Thema zu erarbeiten. Das Parlament stimmte dieser Umwandlung in ein Postulat zu. Allerdings signalisierten alle Fraktionen, dass sie nicht grundsätzlich gegen ein selektives Obligatorium sind und sie es mit dieser Prüfung durchaus ernst meinen. Schon heute würden diverse Gemeinden fremdsprachige Familien und ihre Kinder relativ deutlich zum Besuch von Förderangeboten auffordern, so Hauser – «mit Erfolg». Dieses «bauernschlaue» Vorgehen bewege sich «im Graubereich». Auch darum solle der Kanton eine neue Gesetzesgrundlage ernsthaft prüfen. Mit finanziellen Anreizen für die Eltern lasse sich vermutlich nicht allzu viel bewirken – «viele der Angebote sind ja heute bereits sehr günstig».

Thurgauer Regierung legt Gesetzesänderung für Obligatorium vor

Schneller unterwegs als St.Gallen ist der Kanton Thurgau. Die Regierung hat vor kurzem einen Gesetzesentwurf vorgelegt, damit Eltern verpflichtet werden können, ihre Kinder in eine vorschulische Förderung zu schicken. Aus Kindergärten, Kindertagesstätten und Spielgruppen werde vermehrt von Kindern berichtet, «die über eine ungenügende Sprachkompetenz verfügen oder Verhaltensauffälligkeiten zeigen», heisst es in der Mitteilung der Regierung. Die sprachlichen Lücken seien für die Kinder, die Lehrpersonen und das Schulsystem gleichermassen belastend.

Für die Sprachförderung will die Thurgauer Regierung – auch im obligatorischen Fall – bestehende Angebote in den Gemeinden berücksichtigen. Die Kosten werden auf rund drei Millionen Franken pro Jahr geschätzt – sie sollen im Wesentlichen zwischen Kanton und Schulgemeinden aufgeteilt werden. Vorgesehen ist aber auch, dass die Schulgemeinden von den Eltern «einkommensabhängige Beiträge» bis maximal 800 Franken pro Jahr verlangen dürfen. Jetzt muss der Grosse Rat über die Gesetzesänderung entscheiden.

Streit um Elternbeiträge in der Volksschule führte bis vor Bundesgericht

Das Thema Elternbeiträge ist im Kanton jedoch vorbelastet. So sah das Gesetz im Thurgau bereits einmal vor, dass Eltern zusätzliche Deutschkurse während der obligatorischen Schulzeit mitfinanzieren sollen. 2017 erklärte das Bundesgericht dies für unzulässig: Die Volksschule müsse unentgeltlich sein. Bei der jetzt geplanten vorschulischen Sprachförderung seien Elternbeiträge rechtmässig, heisst es in einem Gutachten. Dass ein Gericht dies anders sehen könnte, wird allerdings nicht ausgeschlossen.

«Wenn man nichts unternimmt, wird es später viel teurer»

Sandro Wasserfallen sagt, die Entwicklung im Thurgau habe ihn darin bestärkt, den Vorstoss im St.Galler Parlament zu wagen. «Die Resonanz bei den Parteien war überraschend positiv», sagt er. In seiner eigenen Fraktion, der SVP, werde die Pflicht zur Sprachförderung zwar durchaus auch kritisch beurteilt: «Es wird schnell die Kostenfrage gestellt.»

Doch die Rechnung sei simpel: «Wenn ein Kleinkind Mühe hat mit der Sprache und man nichts unternimmt, werden später in der Schule Fördermassnahmen nötig, die noch viel teurer sind.» Wasserfallen hätte es zwar lieber gesehen, wenn auch St.Gallen sogleich eine Gesetzesänderung angepackt hätte. «Die positive Wirkung eines selektiven Obligatoriums lässt sich in anderen Kantonen durchaus beobachten. In Luzern beispielsweise oder in der Stadt Chur.» Dennoch kann er damit leben, dass die Regierung zuerst einen Bericht vorlegen will. «Es ist sicher nicht falsch, wenn man gewisse Fragen – auch juristischer Art – noch vertieft abklärt.» Wasserfallen bleibt aber dabei: «Der Staat sollte gewisse Bemühungen der Eltern verbindlich einfordern dürfen. Zumal es um das Wohl des Kindes geht.»

St.Galler Tagblatt, 22.7.2021, Text: Adrian Vögele, Bild: Andrea Stalder

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