Wieder im Nationalrat vertreten, eine eigene Fraktion im Kantonsparlament: Die Ausgangslage der St.Galler Grünen für die nächsten nationalen und kantonalen Wahlen ist so komfortabel wie schon lange nicht mehr. Ihr Ziel: nochmals zulegen. Ihr Zugpferd: Franziska Ryser. Und wer steht sonst noch parat?
Der Jubel war gross, die Freude ausgelassen – an jenem Sonntag im März 2020. Die St.Galler Grünen hatten in den kantonalen Wahlen einen erdrutschartigen Erfolg erzielt. Seither politisieren sie zu neunt im Kantonsparlament. Zuvor hatten sie fünf Sitze innegehabt – und waren Juniorpartner der SP gewesen. Doch nun hatten sie derart wacker zugelegt, dass sie eine eigene Fraktion bilden konnten.
Dem Wahlsieg im Kanton war ein anderer vorausgegangen: Die Partei ist seit Herbst 2019 auch wieder in Bundesbern vertreten – mit Nationalrätin Franziska Ryser. Für viele zählt die St.Gallerin zu den Senkrechtstarterinnen in Bern. Sie hat sich innert kürzester Zeit im nationalen Politbetrieb etabliert und eroberte auf Anhieb einen Sitz in der prestigeträchtigen Wirtschaftskommission. Ryser gehört zu den wichtigsten Köpfen der Grünen in der Wirtschaftspolitik. Besonders deutlich wurde dies, als es um Wirtschafts- und Covid-Hilfen ging.
Ryser ist jung, sie ist 30. Sie tritt unaufgeregt auf, argumentiert sachlich, hält mit ihrer Meinung aber nicht zurück. Sie schweigt nicht, wenn es für sie nicht stimmt. Und wenn es ganz und gar nicht stimmt, äussert sie auch mal scharfe Kritik. So las sie dem Nationalrat die Leviten, nachdem im Frühling 2021 der Corona-Mietrabatt für Geschäfte gescheitert war, dafür aber eine fixe Öffnung der Restaurants zur Debatte stand. «Wie soll ich dieses Parlament noch ernst nehmen?», fragte sie in die Runde.
Nationalrat: Greifen die Grünen nach einem zweiten Sitz?
Rysers Wahlerfolg und Einsatz in Bern lassen den politischen Genickbruch der St.Galler Grünen von 2015 vergessen. Jene Wahlen waren für die Partei bitter ausgegangen: Ihre damalige Nationalrätin Yvonne Gilli erzielte zwar fast gleich viele Stimmen wie vier Jahre zuvor, verlor den Sitz aber dennoch. Der Grund waren weniger die minimalen Stimmenverluste der Grünen, sondern jene der Listenpartnerin SP.
Das ist Vergangenheit. 2023 wird die Ausgangslage der Grünen eine komfortablere sein als in den letzten Wahlen: Sie können mit einer Bisherigen antreten – mit Franziska Ryser. Sie ist gesetzt, daran zweifelt niemand. Sie kommt bis in die Mitte gut an und kann auch Stimmen ausserhalb der Partei holen. Ein zweiter Nationalratssitz dürfte dennoch ausser Reichweite sein. Daniel Bosshard, Präsident der St.Galler Grünen, macht kein Geheimnis daraus, dass dieser «mittelfristig» angestrebt wird. Auch für sich selber schliesst er den Sprung auf die eidgenössische Ebene nicht aus – mittelfristig.
Ständerat: Die Grünen sind mit dabei
Gewiss ist bereits heute: Die Grünen werden 2023 erneut zu den Ständeratswahlen antreten. Und dies unabhängig davon, ob dannzumal ein Sitz frei sein wird und welche Konkurrentinnen und Konkurrenten mit ins Rennen um die beiden St.Galler Sitze in der kleinen Kammer steigen. «Es ist wichtig, ökologische und progressive Kräfte auch im Ständerat zu haben», sagt Bosshard. Ob ihre Kandidatin, wie vor vier Jahren, Ryser heissen wird, ist offen. «Kann, muss es aber nicht zwingend sein», weicht Bosshard aus.
Ryser hatte 2019 im ersten Wahlgang nur 3000 Stimmen weniger geholt als Marcel Dobler, Kandidat der Freisinnigen und damit Vertreter jener St.Galler Partei, die jahrzehntelang im Ständerat vertreten gewesen war. Zum zweiten Wahlgang traten die Grünen nicht mehr an.
«Es ist naheliegend, dass alle Parteien mit bekannten Namen antreten», sagt Silvano Moeckli, St.Galler Politologe und emeritierter HSG-Professor. «Eine andere Überlegung ist, dass man einen neuen Namen bekannt machen möchte, beispielsweise für die nachfolgenden Regierungswahlen.»
Auftritt: mutiger und fordernder
Die grüne Erfolgswelle der letzten Wahlen ist keine Selbstläuferin – in einem bürgerlich dominierten Kanton wie St.Gallen schon gar nicht. Doch etwas hat sich seither grundlegend geändert: die Wahrnehmung der Grünen. Sie sind, seit sie im Kantonsparlament eine eigene Fraktion stellen, nicht länger die kleine Schwester der SP. Sie sind der SP in vielen Fragen noch immer nahe, sie politisieren aber nicht mehr in deren Windschatten. Die Abstimmung ihrer Anliegen mit jenen der SP entfällt. Sie treten mutiger, pointierter und fordernder auf und vor allem: Ihre Stimme wird nun als eigenständige Stimme der Grünen gehört.
Politologe Moeckli geht noch einen Schritt weiter: «Die Grünen haben sich nicht bloss von der Fraktionsgemeinschaft losgelöst. Sie haben erfolgreich einen Teil der Wählerschaft der SP übernommen.» Rund ein Drittel der Wählerinnen und Wähler, die 2019 den Grünen ihre Stimme gaben, hätten diese 2015 noch für die SP eingelegt.
Kantonsparlament: weitere Sitze dazugewinnen
Für die Grünen ist klar: Es soll nicht bei der einmaligen grünen Welle im Kanton bleiben. Sie wollen in den nächsten Wahlen weiter zulegen. Darauf deutet hin, dass sie ihre politische Arbeit im Toggenburg «reaktivieren». Das kommt nicht von ungefähr: Kantonsrat Marco Fäh ist aus dem Linthgebiet herwärts auf die Toggenburger Seite des Ricken gezogen.
Einfach wird das Unterfangen nicht, einen Toggenburger Sitz zu holen. Die Region ist derzeit übervertreten im Kantonsparlament; ihr stehen elf Sitze zu, momentan vertreten sie allerdings ein Dutzend Frauen und Männer im Kantonsparlament – da Fäh, gewählt im Wahlkreis See-Gaster, heute in der Gemeinde Neckertal lebt. Will er 2024 als Kantonsrat wiedergewählt werden, muss er neu im Toggenburg genügend Stimmen machen.
Umgekehrt muss die Partei ihren «abgewanderten» Sitz im Linthgebiet verteidigen. Zuzutrauen wäre dies Rahel Würmli, der ehemaligen Stadträtin von Rapperswil-Jona.
Präsident Bosshard nennt zehn Sitze als «Minimalziel» – einen Sitz im Toggenburg holen und jenen im Linthgebiet sichern. Auf sein Wunschziel angesprochen, muss er nicht lange überlegen: «Zwölf Sitze.» Ein ambitioniertes Vorhaben, das sich mit Erfolgen in städtischen Gebieten am ehesten erreichen lässt. Dort fallen vor allem zwei junge Frauen auf: Rebekka Schmid, 25, St.Galler Stadtparlamentarierin, und Meret Grob, 27, Wiler Stadtparlamentarierin.
Regierung: ein Wort mitreden
Die Frage, ob die Grünen zu den nächsten Regierungswahlen antreten und mit wem, dürfte vor allem auch die SP interessieren. Denn: Sollte Sicherheits- und Justizdirektor Fredy Fässler «keine guten Gründe» für eine erneute Kandidatur finden, wie er es selber nannte, dann ist der zweite SP-Sitz keineswegs gesichert. Die Grünen werden vor einer Kampfwahl nicht zurückschrecken. Das sind sie sich gewohnt. Aber ebenso wenig werden sie offen auf einen SP-Sitz spienzeln oder gar einen angreifen. Darauf angesprochen antwortet ihr Präsident denn auch:
«Wir wollen keinen Sitz auf Kosten der SP holen, sondern auf Kosten der konservativen Mehrheit.»
Und dennoch könnten die Grünen zu einer ernst zu nehmenden Konkurrentin für die SP werden. Zwar hatte ihre Kandidatin Rahel Würmli bei den letzten Regierungswahlen 6000 Stimmen auf Laura Bucher, die heutige SP-Regierungsrätin, eingebüsst. Doch von einem Abschiffer kann keine Rede sein. Der Verzicht auf den zweiten Wahlgang war den Grünen denn auch schwer gefallen.
Gut möglich, dass sie erneut mit einer Frau zum Sprung in die Pfalz ansetzen. Da wäre einmal Kantonsrätin Tanja Zschokke. Als Stadträtin von Rapperswil-Jona bringt sie Exekutiverfahrung mit – und mit ihr wäre auch das Linthgebiet wieder in der Regierung vertreten. Ob Rahel Würmli, ehemalige Stadträtin aus dem Linthgebiet und heute Vizepräsidentin der Kantonalpartei, nochmals antritt? Nicht ganz ausgeschlossen, aber eher unwahrscheinlich.
Bei den Männern steht ein möglicher Kandidat wohl kaum zur Verfügung: Nachdem Basil Oberholzer aus beruflichen Gründen vor gut einem Jahr aus dem Kantonsparlament zurücktrat, dürfte er nicht nach der Regierung greifen wollen. Anders Kantonsrat Michael Sarbach; der 41-jährige Wiler stünde auch für den Generationenwechsel, den die Partei einläuten möchte.
Aussichtsreichste Kandidatin auch bei den Regierungswahlen wäre unbestritten Franziska Ryser. Doch ebenso klar ist: Die Grünen werden sie nicht bei allen Wahlen aufstellen.
Chancen: «Ein Trendbruch ist nicht in Sicht»
Wie schätzt Politologe Moeckli die Chancen der Grünen ein, ihren Erfolgsritt in den nächsten Wahlen fortsetzen zu können? «Umfragen und Wahlergebnisse seit den Parlamentswahlen 2019 sprechen dafür, dass sie ihren Lauf fortsetzen.» So hätten die Grünen von Oktober 2019 bis März 2022 in den kantonalen Parlamentswahlen 48 Sitze hinzugewonnen. «Ein Trendbruch ist nicht in Sicht.» Auch Corona und der Ukraine-Krieg hätten daran nichts geändert. Doch neue Entwicklungen – etwa Inflation oder Rezession – könnten den Lauf aber stoppen.
Bosshard, seit zwei Jahren Präsident der St.Galler Grünen und seit einem Jahr Kantonsrat, sieht die Partei ebenfalls weiter im Hoch: «Unsere Anliegen gewinnen laufend an Aktualität. Immer mehr Menschen erkennen, dass es ein Umdenken in Richtung Nachhaltigkeit braucht.»
Wie für alle andern Parteien gelte auch für die Grünen: «Ihr kantonales Wahlergebnis wird von den nationalen Tiefenströmungen abhängen», sagt Moeckli. «Das Parteiimage wird von der nationalen Politik und den in den landesweiten Medien erscheinenden Figuren geprägt.» Und so kann man es drehen, wie man will, man landet immer wieder – bei Franziska Ryser.
Quelle: St.Galler Tagblatt, 6.8.2022. Bilder: KEY, Benjamin Manser, Hanspeter Schiess, Regina Kühne.